Internationaler Arbeitskreis für Verantwortung in der Gesellschaft e.V., Linkenheim-Hochstetten

GASTEDITORIAL: VERANTWORTUNG IN DER GESELLSCHAFT

OHNE HERKUNFT - KEINE ZUKUNFT

Wenn man heute Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen will, braucht man ein festgefügtes und klar definiertes Fundament! Wir sehen im siebenten Jahr der Immobilien- und Finanzkrise und in den immer neuen Kaskaden der Euro-Rettungsversuche nahezu täglich, dass es an Grundlage und Kompass fehlt. Das lähmende Stichwort ‚alternativlos‘ und die verräterische Redeweise, man fahre in der Krise „auf Sicht“, demonstrieren dies überdeutlich! Und: Die ökonomische Krise hat nicht primär ökonomische, sondern ethische Gründe.

1. Es geht am Beginn des 21. Jahrhunderts um nicht weniger als darum, die europäische Identität wiederzugewinnen. Sie zerfließt in einer blinden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, in Beliebigkeit und eine verwirrte Bedürfnis- und Konsummentalität. Mit medialer Beeinflussung werden Hysterien erzeugt. Wo keine stabilen Werte bestehen, greift eine Pseudomoral des Mainstream unter der Bezeichnung „Political correctness“ um sich. Wo die Suche nach Wahrheit in einer „Diktatur des Relativismus“ (Benedikt XVI.) preisgegeben ist, wird zum ausschließlichen Kriterium, was nach der Mainstream-Meinung noch gesagt werden darf und was nicht.

2. Das Wissen um eine europäische Identität stand indessen am Anfang des europäischen Einigungsprozesses. Inzwischen ist davon kaum etwas anderes geblieben als das Bekenntnis zur Währung. Europa hat der Welt noch immer etwas zu geben: Ist es doch nach den Worten des einstigen Bundespräsidenten Theodor Heuss auf drei Hügeln errichtet: Dem Areopag in Athen mit der Errungenschaft der in Griechenland entstandenen Demokratie, vor allem aber dem freien Wort, der Überzeugungskraft (logon didonai) und der Verantwortlichkeit für die Handlungen, wie sie das Urbild des Philosophen, Sokrates, lehrte und lebte. Der zweite Hügel ist das Forum Romanum. Mit Rom verbinden sich Begründung und Kodifizierung des Rechts. Dies hat auf der festen Basis des göttlich sanktionierten Naturrechts Europa geprägt und zu den nationalen Rechtsstaaten geführt, die, wie an keinem anderen Ort der Welt, Rechtssicherheit für Person, Leben und Eigentum bedeuten. Und von dieser Ressource leben wir heute immer noch!

Der dritte Hügel ist von ganz anderer, nicht nur geschichtlicher Macht: Golgatha, der Ort, an dem Gott in Jesus Christus die Sünde der Welt getragen hat; durch seinen Tod hindurch hat er nach christlichem Glauben dem Menschen ein unzerstörbares Leben geschenkt. Dies ist nicht eine Sonderlehre des christlichen Glaubens, es ist eine Hoffnung für die Welt, aus der auch die Angehörigen anderer Religionen oder die Agnostiker schöpfen können! Das Menschenbild des Neuen Testaments ist zutiefst und unerschütterlich positiv: Ist der Mensch doch Ebenbild Gottes und hat Gott doch dieses Bild durch die Vergebung der Sünden wiederhergestellt. Dieser Glaube an den Menschen verbindet sich mit dem Wissen um seine Fehlbarkeit und Endlichkeit. Das unterscheidet die christliche Weltauffassung von all den totalitären Träumen vom „Neuen Menschen“, die im 20. Jahrhundert die extreme Rechte und die extreme Linke träumten: Die Extreme berühren sich bekanntlich darin, dass sie den Himmel auf Erden versprechen und die Hölle begründen! Wenn man an das christliche Menschenbild anschließt, so ist dem Menschen versagt, sich zum Schöpfer seiner selbst zu erheben. Und er ist davor bewahrt, in Ängstlichkeit und Zweifel zu versinken. Er ist zum treuen Haushalter über die Schöpfung gesetzt, nicht zu ihrem Ausbeuter und grenzenlosen Herrn. Der „Glutkern“ (Habermas) des christlichen Glaubens ist in die Verfassungsordnungen der Freiheit eingegangen, und das aus gutem Grund. Menschenrechte beruhen auf der wirklich unteilbaren und nicht zu beschädigenden Würde des Menschen: Wo wäre sie tiefer begründet als in der christlichen Botschaft von der Gottesebenbildlichkeit? Gewiss: Das christliche Fundament erfuhr im Laufe der Jahrhunderte vielfache „Säkularisierungen“. Doch „Säkularisierung“ bedeutet gerade, dass dieser Glutkern in andere Kontexte übertragen wird, die Sprache der Philosophie und die Sprache des Rechts. Das Säkularisat wird ohne die Realität, die es trägt, kaum fortbestehen können.

3. Wenn man weiß, aus welcher Identität man lebt, so gewinnt man auch die Kraft zur Zukunft. Es geht darum, dass wir in Europa wieder einen Willen entwickeln, die Zukunft zu gestalten, dass wir eine Ordnung der Freiheit formen und nicht als Getriebene der Globalisierung das Beste aufgeben. Europa ist eine Völkergemeinschaft, die ein großes Erbe weiterentwickelt und für die Welt zum Leuchten bringt. Nur wenn man weiß, woher man kommt, kann man einen Willen und Plan gewinnen, wohin man gehen soll. An diesem Willen fehlt es und deshalb sind wir unfähig, uns aus dem Desaster der Krisen zu lösen. Die vermeintliche Emanzipation von unseren Wurzeln hat eine geistige und ethische Leere mit sich gebracht; Papst Benedikt XVI. sprach zu Recht von der „Diktatur des Relativismus“.

Es ist entscheidend, dass wir wieder die Liebe zur Wahrheit und den Mut zur Wirklichkeit zurückgewinnen. Nur so kann man Verantwortung übernehmen, die Antworten gibt auf die Nöte des anderen Menschen, auf die komplizierten Fragen einer globalisierten und eng verflochtenen und vernetzten Welt und zuletzt auf die Anforderungen einer höheren Macht, die auch uns fragen wird „Wo warst du, Adam?“. Es ist heute zwar viel von Nachhaltigkeit die Rede und auch die Berufung auf „Verantwortung“ ist eine gängige Münze, um nicht zu sagen eine Floskel. Doch wenn es ernst wird, berufen sich die Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft zumeist auf „Sachzwänge“ oder sie schielen auf die kurzfristigen Aussichten bei neuen Wahlen. Es ist zuzugeben, dass diese Welt immer komplexer wird. Dem wird man nicht begegnen, wenn man sich selbst nach dem jeweils neuesten Windchen richtet, sondern nur wenn man, wie Goethe es einmal sehr schön und tief formulierte, sich vor einem Zeitraum von mindestens 3000 Jahren europäischer Geschichte Rechenschaft zu geben weiß.

4. Dies ist im besten Sinn ein ‚konservatives‘ Programm: Unter ‚konservativ‘ (bewahrend) ist freilich keineswegs zu verstehen, dass alles so bleiben soll wie es einmal war. Wohl aber, dass es einen Horizont der bleibenden Werte und Ordnungen gibt. Das Neue ist nicht immer dem Alten überlegen; und oftmals sieht die neueste Mode nach wenigen Jahren sehr alt aus. Karl Kraus wird das Wort zugeschrieben: „Der Fortschritt ist auch nicht mehr, was er einmal war“. Wenn man die drei Wurzeln Europas als das Fundament versteht, das es zu bewahren gilt, dann hätte dies für unsere Werteordnung einige Konsequenzen:

  • (1.) bedarf es der Eliten, die aus klarer Einsicht unerschrocken die Lage analysieren und nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Elite darf sich nicht länger nur nach Einkommen und wirtschaftlichen Parametern bemessen. Der Elite anzugehören, heißt zu dienen. Carl Schmitt sagte einmal, „wer bonum commune sagt, der will betrügen“. Leider ist die Wahrheit dieses Satzes nicht ganz von der Hand zu weisen. Doch wir müssen unbedingt wieder einen Begriff des gemeinsamen Besten finden: auch das gelingt in einer im Glauben fundierten Weltsicht weit besser als in einer vermeintlich säkularen Welt. „Suchet der Stadt Bestes“ heißt zugleich: „Wisst um eure Verantwortung vor Gott und den Menschen“.

  • (2.) Dazu ist eine verantwortungsbewusste Erziehung entscheidend, eine Erziehung, die nicht nur bestimmte Fertigkeiten, sondern auch den Charakter und die eigene Urteilsfähigkeit bildet, die die gestanzten Meinungsphrasen zu durchschauen vermag. Dazu gehört, dass wir unseren Kindern und jungen Menschen die Chance geben, nicht nur Kinder ihrer Zeit zu sein, sondern den großen Kanon der Weltgeschichte zu kennen. Es versteht sich, dass diese Bildung nicht nur den Begüterten zuteil werden kann. Es versteht sich auch, dass nach Begabungen und Fähigkeiten zu unterscheiden ist: gewollte Erzeugung von Akademikermassen hat nichts mit einer Bildungsnation zu tun. Den hochqualifizierten Handwerker und Facharbeiter sollte man nicht geringschätzen! Der europaweite Bologna-Prozess hat die Absolventenzahl vermehrt. Damit werden aber letztlich nur formale Abschlüsse, die teilweise wenig wert sind, erworben. Er hat weder die Mobilität noch die Studienerfolge vermehrt. Die Bürokratie hat er freilich gefüttert.

  • Er darf in der unspezifischen Weise, in der er exekutiert wurde, keineswegs das letzte Wort bleiben! Er hat die für die deutsche Universität charakteristische, ihre Größe und Bedeutung ausmachende Humboldtsche Einheit von Forschung und Lehre untergraben. Sie, ein Modell für die gesamte Welt, muss als Forschungs- und Bildungsstätte für die Besten wieder einen institutionellen Rahmen und Ort erhalten!

  • (3.) Europa ist seiner Idee nach eine Verbindung von Einheit und nationaler, aber erst recht kultureller Vielheit und Diversität. Bei jeder Reise wird es evident: Man fühlt sich in Italien, Spanien oder Polen in Europa zuhause und doch empfindet man die Andersheit bereichernd, mitunter auch irritierend. Große transnationale Verbindungen sind in Europa noch immer spürbar: das Karolingische Europa, die Staufische Kultur, die Grenzen von Renaissance und westlicher Aufklärung.

  • Kant sprach treffend davon, dass man, um Weltbürger zu sein, zunächst Bürger und Angehöriger der eigenen Nation sein müsse. Diese Verbindung von Patriotismus und Universalismus war auch für den europäischen Einigungsprozess zunächst die eigentliche raison d’être. Es ist bedenklich, wenn in einem Land die patriotische Seite obsolet gemacht wird, wie in zunehmendem Maß in Deutschland. Unstrittig schwären die Wunden der NS-Verbrechen noch immer. Niemand, der bei Verstand ist, wird daran etwas beschönigen wollen. Doch man muss entschieden der gängigen Tendenz widersprechen, jeden, der eine vom Mainstream abweichende Auffassung vertritt, mit der NS-Keule zum Schweigen zu bringen. Dies instrumentalisiert in unerträglicher Weise die Opfer!

  • (4.) Eine blühende Kultur wird Migranten anziehen. Cives Romanus wollten die Völker der Alten Welt sein. Seine Identität daraus zu ziehen, Einwanderungsland zu sein, ohne eigene Kulturachtung sich als „Bunte Republik“ zu feiern, ist entschieden zu wenig. Die Regularien der Einwanderung muss das Gastland bestimmen, und dazu muss es um seine Identität wissen.

  • (5.) Zur Souveränität nach außen gehört das Bürgertum als Träger des Gemeinwesens nach innen. Bürger sind durch ihren Besitz eigenständig, sie sind aber auch urteilsfähige freie Subjekte. Man spricht heute davon, dass sich ‚die Mitte‘ weit nach links verschoben hat. Dies ist natürlich Unsinn: Die Mitte kann sich nicht verschieben. Eine bestimmte Leitideologie ist, durch den sehr erfolgreichen Marsch durch die Institutionen, meinungsbildend geworden. Es kommt darauf an, ihre Positionen unerschrocken auf den Prüfstand zu stellen. Niemand wird an vernünftiger Freiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter rütteln, wohl aber an einer Ideologisierung unseres Lebens.

Aurelius Augustinus sagte einmal: „Liebe und dann tue was du willst!“. – Entscheidend dürfte sein, dass wir unsere Fundamente wieder zu kennen und zu lieben lernen. Daraus, und nur daraus wird eine gute europäische Zukunft erwachsen!
Prof. Dr. Harald Seubert, Basel, Nürnberg

Kurzvita Harald Seubert

  • Geboren am 12.05.1967 in Nürnberg, seit 2001 verheiratet, zwei Söhne
  • Studium an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Philosophie, Literaturwissenschaft, Neuerer Geschichte, Sozialwissenschaften und evangelischer Theologie
  • Promotion 1998 in Erlangen, Habilitation 2003 in Halle/Saale

  • Nach Privatdozenturen bzw. professoralen Lehrtätigkeiten an den Universitäten Halle/Saale, Erlangen, Bamberg und Poznan/Posen (Polen) seit 1. 9. 2012 Professur und Fachbereichsleitung für Philosophie und Religionswissenschaften an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule in Basel. Daneben Gastprofessor an der Universität München und Teil des Professoriums der Hochschule für Politik/München.